Am Tagliamento – den letzten Wildfluss der Alpen entdecken
Nichts auf dieser Welt wird von diesem schimmernden Horizont
übertroffen, der sich am Ufer des Tagliamento in tausend
verschiedenen Schattierungen in der Unendlichkeit verliert, von
den vielen Rinnsalen, die das breite Kiesbett wie ein Netz
durchziehen und sich bei Sonnenuntergang in bebendes Silber
verwandeln, wobei jedes Steinchen und jede sich kräuselnde Welle
ein eigenes Licht verströmt, so wie jeder Stern im Blau der Nacht
sein eigenes Licht entzündet.
Ippolito Nievo, März 1856
Vom Quellgebiet am Passo della Mauria in denKarnischen Alpen durchfliest der Tagliamento zunächst Karnien, bekommt alsbald Verstärkung durch die Fella bei Carnia, tritt in die große Ebene ein und mündet, vorbei an Venzone, San Daniele, Spilimbergo und Latisana, nach 172 Kilometern bei Lignano in die Adria.
Die Hälfte seiner 150 km. großen Auenlandschaft ist Schotter, der von oben betrachtet, die pianura alta als langes, weißes Band durchzieht –was wie ein bleiches Rückgrat aussieht, das Friaul in der Mitte teilt.
Die Vielfalt an bunten Steinen, die Verschiedenheit der Gesteine im Flussbett, ist der geologischen Besonderheit der Julischen und Karnischen Alpen geschuldet, letztere zählen, geologisch betrachtet zu den 100 interessantesten Regionen der Erde.
Betörend ist auch das Farbenspiel des Wassers, der helle Untergrund, das Licht und die Kalkteilchen die der Fluss mit sich führt, sie erzeugen alle erdenklichen Grün-und Blautöne.
Ich bin der Faszination dieses Flusses schon vor vielen Jahren erlegen und habe meine Erfahrungen und Eindrücke überden König der Alpenflüsse in einem Buch festgehalten, das nunmehr in einer zweiten, aktualisierten und erweiterten Auflage erschienen ist.
Noch vor 100 oder 150 Jahren haben die meisten Alpenflüsse so ausgesehen wie er, doch während in Europa ein Fluss nach dem anderen domestiziert wurde, hat der Tagliamento sich allen Regulierungsversuchen widersetzt.
Er hat sich seine Freiheit wohl auch deshalb bewahrt, weil er den Menschen Respekt eingeflößt hat, indem er ihnen seine zerstörerische Kraft und Unberechenbarkeit immer wieder vor Augen führte.
Dennoch ist das Reich des Königs der Alpenflüsse ständig in Gefahr. Den Bau einer Autobahn entlang des Flusses konnte eine Bürgerbewegung in der Vergangenheit verhindern, ebenso die Errichtung von riesigen Rückhaltebecken die als Hochwasserschutz geplant sind.
In letzter Zeit forciert die Regionalregierung Pläne, nach denen an einer Engstelle bei Pinzano, eine 13 Meter hohe Schwelle aus Stahlbeton errichtet werden soll. Verstellbare Tore sollten sich dort immer dann schließen, wenn der Fluss anschwillt und einen künstlichen See zur Folge haben. Eine absurde Idee die das Ende aller Vorzüge dieser einmaligen Flusslandschaft bedeuten würde.
Noch steht sein Name für das größte naturnahe Flusssystem in den Alpen, das gerade in unseren Tagen für Forschungen zum Thema Renaturierung wieder an Bedeutung gewinnt. Es dient als riesiges Freiluftlabor, als Referenz-und Modellökosystem an dem man lernen kann wie frei fließende Flüsse funktionieren und wie sie sich bei Hochwasser verhalten.
Jedes Hochwasser verändert die Gestalt des Tagliamento. Inseln, Tümpel und freie Schotter-flächen werden neu geschaffen, ein wie Fachleute es nennen, verzopftes Flusssystem mit hunderten von Inseln. An vielen findet sich Bewuchs von unterschiedlichem Ausmaß. Dort kommt angeschwemmtes Totholz zu neuem Leben und bildet die Grundlage für ein komplexes Öko-System, das wiederum eine große Vielfalt an Pflanzen, Kleinlebewesen, Vögeln, Fischen und Reptilien hervorbringt.
Vor allem entwurzelte Weiden, die im Flussbett liegen bleiben, schlagen schnell wieder aus, tragen schon nach zwei Jahren Kätzchen und ihre Samen beginnen auf dem feuchten Boden
sofort zu keimen. Sie tragen maßgeblich zur Bildung neuer Biotope bei und schaffen ein Paradies für hunderte Insektenarten. Ein großer Teil davon steht auf der Roten Liste, unter ihnen die Rote Schnarrheuschrecke, die weltweit vom Aussterben bedroht ist. Tümpel, die sich um diese Inseln bilden, sind ein Dorado für Amphibien und Fische. Viele der 33 Fischarten wachsen dort auf. Futter ist in Form von Schwemmgut und Mückenlarven ausreichend vorhanden.
Es überrascht, dass im Tagliamento die Bachforelle sogar in Meeresnähe anzutreffen ist, während der Hecht ungewöhnlich weit in die oberen Flussbereiche vordringt.
Der Tagliamento steht was die Biodiversität betrifft, in einer Reihe mit dem Tropischen Regenwald oder einem intakten Korallenriff. Bleibt zu hoffen, dass die Petition, den Tagliamento als Weltnaturerbe anzuerkennen, erfolgreich ist.
Vielleicht ist all das auch für Sie ein Ansporn, ihn einmal auf dem Weg ans Meer, näher in Augenschein zu nehmen, bei einem Spaziergang am Ufer, einer Fahrt mit dem Kanu oder auch einem erfrischenden Bad.
Schließlich war es auch er, der den feinen Sand nach Sabbiadoro in Lignano geliefert hat und wer dorthin fährt muss ihn auf der Autobahn zwangsläufig zweimal überqueren -die meisten nehmen ihn nicht wahr oder fragen sich, vor allem bei niedrigem Wasserstand, wo ist eigentlich der Fluss?
Der Fluss ist die Spur, die er zieht.
(Zitat aus: „Flussland Tagliamento“, Esther Kinsky)
Werner FREUDENBERGER