WELT der RENAISSANCE: R O M
Rom war nicht immer die Hauptstadt der Welt. Zwischen der Glorie der Antike, die sich gerade für Büchermenschen daran ermessen lässt, dass die Millionenstadt im 4. Jahrhundert über 28 öffentliche Bibliotheken verfügte, und der Wiedergeburt dieser Großartigkeit in der Renaissance liegt eine erschreckend desaströse und öde Zeit: jene Zeit, die wir, Schüler Petrarcas, die wir alle sind, als Mittelalter bezeichnen. Um die kulturelle Energie der Renaissance richtig wertschätzen zu können, ist das zerstörte Rom der Zwischenzeit wichtig zu bedenken. Bereits zur Mitte des 6. Jahrhunderts sind nur noch etwa 30 000 Einwohner übrig – das wird, abgesehen von etwaigen drastischen Schwankungen, die Größenordnung für das nächste Jahrtausend der Stadtgeschichte sein. Das sind 3 % der Millionenstadt und etwa die Hälfte dessen, was ins Kolosseum passt. Die Ingenieurskünste der Naturbeherrschung sind verschwunden: Die berühmten, ja sprichwörtlichen Hügel Roms leeren sich, da die Wasserleitungen zerstört sind, und die Bevölkerung muss in die Niederungen am Tiberufer umsiedeln, wo stets Malaria und Überschwemmung drohen. Die Stadt wird mehrfach geplündert, besetzt, verheert, sie wird zum Spielball auswärtiger Machtinteressen. Der spätantike Mauerring umschließt ein verwaistes, verödetes Gelände. Die Gegenwart haust kümmerlich und buchstäblich in den Überresten ihrer Vergangenheit. Es ist eine dystopische Vorstellung.
Wie aus dieser Wüste eine neue marmorne Welthauptstadt entstehen konnte, ist eine spektakuläre Entwicklung: Die Renaissance von und in Rom lässt nicht nur staunen, sie macht schlichtweg Mut. Es geht vergleichsweise schnell – im Laufe des 15. Jahrhunderts wird die Antike Roms in mehreren Runden dokumentiert und für den Gebrauch erschlossen, wird das gegenwärtige Rom nach den Maßgaben dieser Entdeckungen umgestaltet. Dafür braucht es “nur” drei oder vier Generationen von Humanisten, jene eigentümlichen Multitalente für alles, was mit Text zu tun hat, die als Gelehrte und Literaten, als Diplomaten und Bedienstete der Kurie, als Forscher und Lehrer arbeiten und ihren gemeinsamen Nenner in den namensgebenden studia humanitatis finden, den direkten Studien der antiken Quellen. Diese Studien verwandeln sich unversehens in große Literatur.
Das beginnt mit den Abhandlungen und Briefen, mit denen Autoren wie Poggio Bracciolini oder Flavio Biondo ihre Erkundungen und Exkursionen durch die Ruinen Roms und des Umlandes erzählen: Zeugnisse nicht nur der Begeisterung und Melancholie gegenüber der verlorenen Antike, sondern auch und vor allem Zeugnisse einer klugen und informierten Skepsis, die lieber originale Inschriften liest als auf die legendarischen Erklärungen des Mittelalters zu vertrauen. Die Expertise der Humanisten ist schnell an dem Punkt, dass Lorenzo Valla staatstragende Dokumente wie die sogenannte Konstantinische Schenkung stilkritisch als Fälschung entlarven kann. In der Folge kommt es zu den ersten Bewegungen in Richtung Archäologie, Musealisierung und Denkmalschutz, an deren Wiege nicht zuletzt der als Maler weltberühmte Raffaello Santi steht. Skulpturenfunde wie der des Laokoon 1506 werden gefeiert und wiederum Gegenstand einer antikisch geschulten Dichtung; das Gedicht Jacopo Sadoletos über den Laokoon etwa ist derart bildgewaltig und mitreißend, dass es noch zweihundertfünfzig Jahre später, in Lessings Abhandlung “Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie” vollständig zitiert wird, weil es, so Lessing, “die Stelle eines Kupfers vertreten kann”. Gemeinsam mit der Kunst und Architektur entfaltet sich am päpstlichen Hof auch eine staunenswerte Schreib- und Redefreiheit, die erst mit der Gegenreformation ab Mitte des 16. Jahrhunderts wieder enden wird: Schlagendes Beispiel ist der junge Pietro Aretino, der in Rom erst florierte und dann flüchten musste. Und noch eine nicht hoch genug zu schätzende Neuigkeit sieht die Renaissance, auch in Rom: Dichterinnen, Autorinnen, Theoretikerinnen, kulturell höchst erfolgreiche Netzwerkerinnen, die als Privat-personen, zumeist als Witwen, agieren und den Rahmen und Schutz eines geistlichen Ordens für ihre literarische Tätigkeit nicht mehr nötig haben; die Anführerin dieser Avantgarde ist die Fürstin Vittoria Colonna, deren “Rime” 1538 im Druck erscheinen.
Aber die Geschichte Roms in der Renaissance ist natürlich auch und vor allem eine Geschichte diesseits der schönen Literatur und des antikischen Enthusiasmus.
In meinem Buch “Welt der Renaissance: Rom” habe ich deshalb auch Quellen aufgenommen, die unmittelbar vom Leben auf der Straße, in der Stadt berichten: Memoiren und Tagebücher aus der Mitte der Gesellschaft, die in der Renaissance überhaupt erstmals greifbar werden und einen faszinierenden Einblick in das Alltagsleben bieten. So zeigen die Texte von Stefano Infessura und Marcello Alberini eine verstörend brutale und unsichere, zugleich rasend sich wandelnde Welt. Im Kontrast dazu wartet die Renaissance Roms auch mit Alltags- und Gebrauchstexten von der Spitze der Gesellschaft auf: Das Kochbuch des päpstlichen Hofkoches Bartolomeo Scappi beispielsweise lässt unerwartet tief blicken. Nicht nur, wenn es um “Das Wappen seiner Heiligkeit aus verschiedenen Zutaten” oder “Burgen aus Teig, gefüllt mit lebendigen Vögeln” geht. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Tobias Roth.